Stephen Hawking machte einmal ein sehr sonderbares Experiment: Er verschickte die Einladungen zu seiner Party erst, nachdem die Party bereits stattgefunden hatte. Klingt komisch, aber bei genauerer Betrachtung schien es doch ganz logisch. Hawking verfolgte mit dieser sonderbar anmutenden Aktion ein bestimmtes Ziel. Er wollte die Möglichkeit von Zeitreisen beweisen. Wären Zeitreisen irgendwann in Zukunft durchführbar, könnten seine Gäste an der Party teilnehmen, obwohl sie die Einladungen erst nachträglich bekamen. Leider kam niemand, und er war der einzige Gast auf seiner eigenen Party. Sein Experiment scheiterte. Aber das war wohl auch irgendwie absehbar, oder? Welcher Gastgeber verschickte denn die Einladungsschreiben erst nach dem feierlichen Anlass? War dadurch die Unmöglichkeit von Zeitreisen endgültig bewiesen? Nein, natürlich nicht, aber ein rauschendes Fest wurde es wohl auch nicht.
Ich stellte mir vor, wie er alleine in seinem Rollstuhl mitten auf der leeren Tanzfläche saß und gebannt auf die Eingangstür blickte. Ein mit Helium gefüllter Luftballon baumelte an seinem Gefährt. Das Licht im Raum war gedämmt und hin und wieder erleuchteten funkelnde Lichtstrahlen, welche von der Discokugel in der Mitte des Raums abprallten, den Boden vor ihm. Es blitzte und funkelte. Ich konnte die Magie, die wie ein zarter Lufthauch durch den Saal zog, förmlich spüren. Welche Playlist er sich wohl ausgesucht hatte? Eher klassische Musik, vielleicht eine Mischung aus Indie-Pop und Rockklassikern? Oder doch eher Schlager? Als ich mir das Bild so vor meinem inneren geistigen Auge vorstellte, musste ich schmunzeln. Gänsehaut lief mir über den Rücken. Ich mochte Menschen mit gewissen Eigenarten und dem Hang, eigene Ideen umzusetzen und Idealen zu folgen, schon immer.
Manchmal muss man im Leben etwas wagen, um neue Dimensionen beschreiten zu können, in diesem Fall ging es schief. Aber es änderte nichts daran, dass Hawking als einer der genialsten Köpfe, die es jemals gab, in die Menschheitsgeschichte einging. Das Scheitern gehört zum Leben dazu. Gewinnen oder verlieren, Nähe oder Distanz, Anziehung oder Abstoßung, all dies sind Bestandteile der Prinzipien, auf denen unser Universum aufgebaut ist. Entstanden aus dem Nichts, ein großer Knall und los ging die Reise. Ein unendlich riesiges, sich immer weiter ausdehnendes Chaos, inmitten dessen wir mit unserer winzigen blauen Kugel umherrasen. Die Menschheit als Reiter beim Rodeo. So stelle ich mir das vor. Wie lange werden wir es wohl noch aushalten, bis die blaue Kugel uns ein für alle Mal abwirft?
So rasen wir dahin, umgeben von Explosionen, Zusammenstößen, unvorstellbar gigantischen Urkräften und einem unendlichen Nichts. Und doch gibt es irgendeine unscheinbare Logik, die dieses unaufhörlich wirre Treiben in ihrem Innersten zusammenzuhalten scheint, jedenfalls für eine gewisse Zeitspanne. Doch was bedeutet schon Zeit in dieser Unendlichkeit? Wir Menschen definieren Zeit als eine messbare Einheit von kleineren Intervallen, die wir mit Sinn füllen wollen. Schön proportioniert in kleinen Maßen, ja keine Minute sinnlos verplempern. Im Moment verweilen ist mittlerweile out geworden – immer schneller, weiter, schöner, besser. Der Sinn für das nicht-Perfekte, das Fesselnde, das sich nur langsam, fast unscheinbar entfaltet, die Geduld und das Gespür, es wahrnehmen zu können. All dies scheint uns immer mehr im Kollektiv abhandenzukommen. Doch was bedeutet schon Sinn? Eine Frage, die mich gerade mehr denn je beschäftigt. Was für einen Sinn hatte diese Geschichte mit Lara? War alles vorherbestimmt oder hätte ich tatsächlich etwas ändern können? Hätte ich die Katastrophe abwenden können? War ich Passagier oder Kapitän? Warum kam es, wie es kam? Meine Gedanken kreisten immer schneller um dieses WARUM. Wie ein Komet mit seinem langen Schweif durchflog es all meine Gehirnareale in die Untiefen meiner Gedankenwelt.
Mein Blick schweift über den nächtlich funkelnden Himmel. Ich sehe einen Stern neben dem anderen, abgeschwächt durch die Lichtverschmutzung der Stadt und doch immer noch gut erkennbar. Ich fühle mich wie ein Astronaut, der kurz vor dem Start zu der ersten bemannten Marsmission sein Leben nochmal vorbeiziehen lässt. Vor meinem inneren Auge spielt sich ab, wie ich alles und jeden zurücklassen muss. Es ist eine Mission ohne Rückkehr. Ich stelle mir vor, wie so ein Abschied wohl wäre. Man stellt sich in den Dienst der Menschen, die man liebt. Die Rakete startet und man wird, vielleicht für immer, als winziges, brennendes Teil in diesem unendlichen schwarzen und doch so schön funkelnden Nichts verschwinden. Funksprüche aus der Vergangenheit wären die letzten persönlichen, menschlichen Relikte, die von einem übrig bleiben würden.
Ich intensiviere meinen Blick und fixiere einen hellen Punkt am nächtlichen Sternenhimmel, an dem ich unseren tapferen Astronauten reisen wähne. Wie ein sich fortwährend veränderndes Gemälde und doch so beständig, erbietet sich dieses funkelnde Schauspiel der Sterne den Menschen und Tieren schon seit Äonen von Jahren. Spezies um Spezies und Generation um Generation erblickte das Leben und verschwand wieder unter diesem mächtigen Dach. So faszinierend der Anblick auch zu sein vermag, in diesem Moment verspüre ich eine heftige innere Unruhe. Das Universum verwehrt mir ein Gefühl der Geborgenheit. Ein Gefühl, nach dem ich mich sehne, seit ich Lara das letzte Mal umarmt habe. Diese Frau, die meine Gedankenwelt die vergangenen Monate auf den Kopf stellte. Ob sich der Astronaut wohl auch so fühlen würde? Besonders dann, wenn ihm nach dem Start des Raumschiffs das erste Mal bewusst werden würde, dass er zwar in den Diensten einer größeren Sache das Richtige getan hätte, aber seine geliebte Heimat auf ewig vermissen würde. Seine Gefühle würden sich zwar mit Sicherheit im Laufe der Zeit abschwächen, das Vermissen würde weniger werden, aber die Erinnerungen würden nie vollends verblassen und so für immer die Sehnsucht am Lodern halten. Wahre Liebe kann nicht sterben. Wäre er vielleicht von Schuldgefühlen geplagt, die falsche Entscheidung getroffen zu haben? Sind es die gleichen Gefühle, die mich einfach nicht mehr loslassen wollen? Wie oft trifft man im Leben die richtige Frau? Woran merkt man überhaupt, dass es die richtige Frau ist?
Ich spüre meine Machtlosigkeit inmitten von diesem tobenden, lebensfeindlichen, aber auch faszinierenden Chaos, das sich da draußen und in mir drinnen abspielt. Ich fühle mich alleine, selbst wenn ich unter Leuten bin, und muss immerwährend an Lara denken. Waren wir nicht etwa wie zwei Kometen, beide aus komplett unterschiedlichen Richtungen kommend, aus den unendlichen Weiten dieses dunklen Raums, in den ich gerade sehnsüchtig blicke, aufeinandergeprallt? Unsere Flugbahnen hatten sich vor dem Aufprall schon mehrere Male gekreuzt und doch hatten wir uns immer wieder verpasst. Wir flogen weiter durch die schwarzen Untiefen des Weltraums. Bis zu diesem Tag, an dem wir uns nicht mehr verfehlten. Bis zu jenem Tag, an dem wir mit einer unbändigen Wucht aufeinanderprallten.
Es geschah wie aus dem Nichts, ohne Ankündigung und doch hinterließ es tiefe Spuren. Nach dem Aufprall sollte nichts mehr sein, wie es vorher war. Wir veränderten uns. Beim Zusammenprall selbst zerstörten wir uns nicht gegenseitig. Es passierte etwas ganz Sonderbares, fast schon Magisches. Teile von uns verschmolzen ineinander – auf ewige Zeiten, unentwirrbar. Doch unsere Kerne blieben heil und eigenständig, wir begannen einander zu umkreisen. Von nun an reisten wir einen Teil der Wegstrecke zusammen. Wir folgten den ungeschriebenen Naturgesetzen von Anziehung und Abstoßung, von Nähe und Distanz, von Angst und Vertrauen.
„Hey Flo, du alter Poet, was hängst hier so alleine am Balkon rum? Hier nimm!”
Felix klopft mir freundschaftlich auf meine Schulter und steckt sich eine Zigarette in den Mund, während er mir eine Dose Bier vor die Nase hält.
„Danke, du Suffkopf!”
Ich grinse und öffne die Dose. Es zischt, wir prosten. Dann trinke ich in großen Schlucken. Felix hat mich auf eine Party mitgeschleppt, damit ich mal wieder unter Leute komme. Die letzten Monate habe ich mich sehr zurückgezogen. Es sind viele Leute anwesend. Der Gastgeber ist also scheinbar nicht Stephen Hawking. In dem Bewusstsein, dass ich wohl niemals als einer der allerhellsten Köpfe in die Geschichte eingehen werde, dafür aber mehr Spaß auf Partys habe, nippe ich weiter an meinem Bier.
Okay, das mit dem Spaß stimmt in dem Fall auch nur sehr begrenzt bis gar nicht. Ich habe überall, wohin ich gehe, das Gefühl, dass die Leute ihr Leben leben und ich immer nur allein auf der Seite stehe und zuschaue. Ich meine das nicht aus der selbstmitleidigen Sicht, nein, ich wollte mit niemandem tauschen. Aber seit meiner letzten Begegnung mit Lara fühle ich, dass sich irgendwas in mir geändert hat. Ich ertappe mich ständig dabei, wie ich immer wieder in Gedanken und Flashbacks versinke. Auch wenn ich nicht ganz so intelligent wie Stephen Hawking bin, interessieren mich die großen Lebensfragen schon, seit ich denken kann. Mich begeistert es, Lebenssituationen unter dem Brennglas der sozialen Lupe zu betrachten. Aber genau so mag ich den Blick für das große Ganze, so als würde ich irgendwo da draußen im Weltraum schweben und auf unsere Milchstraße hinunterblicken.
Dann sind meine Gedanken wieder bei ihr. Mittlerweile ist schon ein Jahr vergangen und doch lässt Lara mich noch immer nicht los – diese Frau, die für mich eine Welt bedeuten konnte, und es wohl immer noch tut. Ich spüre, dass diese Verbindung niemals wieder komplett verschwinden wird. Das macht mir Angst. Es macht mir Angst, weil es mich traurig macht. Ich muss seufzen.
Ich spüre die Wärme der lauen Herbstnacht auf meiner Haut und rieche Zigarettenrauch. Auf dem kleinen Balkon steht eine Gruppe Raucher um mich herum. Ich rauche nicht. Die Leute sind laut, sie lachen, diskutieren und albern herum. Doch dies dringt nur sehr abgedämpft zu mir hindurch, ich fühle mich wie in Trance. So als würde mein Körper zwar auf dem Balkon stehen, aber mein Geist irgendwo im Weltraum herumschwirren. Auf der Suche und der Flucht zugleich, vor ihr oder mir? Ich weiß es nicht.
Allein die Stimme von Felix durchdringt von Zeit zu Zeit diesen unsichtbaren Vorhang. Ihn kannte ich seit einem gemeinsamen Kurzfilmdreh. Wir versuchten zusammen, sein Herzensprojekt „Zum Scheitern verliebt” umzusetzen. Trotz einigen Pannen und Schwierigkeiten stehen wir kurz davor, das Projekt abzuschließen, noch ein paar letzte Feinschliffe am Ton und der Film ist fertig.
Felix hat das Drehbuch geschrieben und ich führte Regie. Sein Traum ist es schon seit Jahren, seinen Durchbruch als Schauspieler zu schaffen. Also schreibt er sich selbst seine Rollen, die er dann in Eigeninitiative filmisch umzusetzen versucht. Für dieses Filmprojekt musste er sogar sein Auto verkaufen. Ich habe ihm davon abgeraten, aber er verfolgt seinen Traum von der Schauspielkarriere beharrlich. Wahrlich kein leichtes Unterfangen, aber er glaubt fest daran. Diesen Idealismus bewundere ich, auch wenn ich seine Sturheit manchmal hasse.
Es ist wirklich eine wunderschöne, klare Sternennacht und ich starre weiter in den Himmel. Die Sterne funkeln und ich blicke direkt in die Vergangenheit. Was wohl aus den beiden Kometen geworden ist? Was wohl aus ihr geworden ist? Hat sie vielleicht einen neuen Freund? Geht es ihr gut? Ich wünsche ihr nur das Beste, doch ich vermisse ihre Stimme, ihre unverfänglich verfänglichen Blicke – ihre pure Anwesenheit. Der Glanz vergangener Tage bröckelt langsam ab und doch spüre ich einen Teil von ihr, trotz der bereits vergangenen Zeit, immer noch tief in mir. Es fühlt sich an wie ein schwarzes Loch, das zwar nicht weiterwächst, jedoch doch unbändig meine Emotionen frisst, um sie dann wieder auszuspucken und schließlich wieder zu verschlucken. Ich glaube, es unter Kontrolle zu haben und doch macht es mir weiterhin Angst. Aus irgendeinem Grund war meine Hoffnung nie verloren gegangen – meine Hoffnung auf eine Rückkehr in diese magische Zeit, eine Reise in die Vergangenheit. Wie der Astronaut auf dem Weg zum Mars, hoffte auch ich bis zur heutigen Nacht auf ein Comeback. Eine Wiederkehr nach einer Reise, die sein musste – einer Reise, von der keine Wiederkehr möglich war.
„Oida, hast du mal Feuer für mich?”
Ich werde abrupt aus meiner Gedankenwelt gerissen. Felix zeigt auf die Zigarette in seinem Mund und deutet mit seiner rechten Hand typische „Feuerzeug-Anzündbewegungen” an. Obwohl ich nicht rauche und dementsprechend auch kein Feuerzeug besitze, fahre ich alibihaft mit meinen Händen in meine Hosentaschen, zucke dann entschuldigend mit den Schultern und verneine mit einem aufgesetzten Grinsen. Felix wusste das und doch fragte er mich regelmäßig nach Feuer. Leicht gespielt genervt, dreht er sich zu den anderen Rauchern auf dem Balkon, um dort sein Glück zu versuchen.
In meiner rechten Hosentasche spüre ich eine rechteckige Schachtel, es ist ein Mixtape auf Kassette. Ja, es hat mich einige Mühen gekostet, die digitalen Songs wieder in analoger Form auf ein Band zu bringen, aber es war möglich und ich habe es für sie getan – sie ist es mir wert. Ich will einen letzten Versuch wagen. Wenn man an etwas glaubt, dann ist man bereit, ungewöhnliche Wege zu beschreiten, genau wie auch Stephen Hawking es getan hat. Selbst wenn die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns so viel höher ist als die des Gelingens.
Ich versinke wieder in Gedanken. Soll ich es ihr wirklich geben? Ist das eine gute Idee? Ich bin mir unsicher und frage mich, ob das noch normal ist, dass ich sie einfach nicht vergessen kann. Wir haben uns jetzt schon eine lange Zeit nicht mehr gesehen. Ein ganzes Jahr ist vergangen und doch habe ich sie nie ganz vergessen können. Die Schmerzen stumpften mit der Zeit ab, es wurde besser und dennoch gibt es so gut wie keinen Tag, an dem ich nicht an sie denken muss.
Die Erinnerungen bleiben und die Idee mit dem Mixtape ließ mich die letzten Monate nicht mehr los. Ich will einen Abschluss finden, was auch immer dieser Abschluss wohl bedeuten soll. Musik wirkte wie ein unsichtbares Band zwischen uns, bis in die tiefsten Regionen unserer Herzen waren wir damit verwoben. Wir hatten eine wahrhaft intensive Verbindung zueinander und Musik gab uns eine Möglichkeit, diese zu transportieren. Wir haben nicht die gleichen Lieblingskünstler und doch berührten uns ähnliche Themen, ähnliche Melodien und ähnliche Zugänge zur Kunst. Wir sind so verschieden und doch so ähnlich. Dies wollte ich mit diesem Mixtape noch einmal für mich zusammenfassen, indem ich es in mühsamer Detailarbeit auf ein Band bündelte. Es war für mich ein Prozess des ihr Nahseins und doch loslassen Wollens, der lange dauerte. Ein Prozess der Trauer, aber auch ein Gefühl der Freude, dass ich es erleben durfte und im Endeffekt eine Hoffnung, die ich nicht ganz aufgeben will. Selbst wenn alle Wahrscheinlichkeit gegen mich spricht. Wenn ich mir das Mixtape anhörte, zog unsere Zeit wie ein Film an meinem geistigen Auge vorbei.
Stephen Hawking versuchte, Zeitreisen zu beweisen und ich glaube im Zeitalter der schnelllebigen digitalen Liebes-Apps weiterhin an die große Liebe. So gesehen ist mein Mixtape auf Band wohl so etwas wie ein Versuch, gegen die Schnelllebigkeit von Tinder anzukommen – ein hoffnungsloses Unterfangen? Aufgeben kommt für mich nicht infrage. Genauso oft aufzustehen wie man hinfällt ist ein Motto, dem ich zu folgen versuche. Wahrlich ironisch ist das Detail, dass wir uns tatsächlich auf Tinder kennengelernt haben.
Ich bin von dem tollen Sternenhimmel, der sich mir in dieser Nacht bietet, fasziniert und abgeschreckt zugleich. Es ist schon etwas sonderbar, dass ich durch die Lichtverschmutzung, die in großen Städten wie in Wien herrscht, überhaupt Sterne sehen kann. Ich rede mir ein, der Himmel wolle mir etwas sagen – ein Zeichen senden. Ich denke zurück an die legendäre Szene aus dem Film „König der Löwen“, als Mufasa seinem Sohn Simba seine Angst offenbart, ihn verlieren zu können. Simba erfährt, dass sogar Könige Angst bekommen. Beide blicken in den nächtlichen Sternenhimmel und Mufasa erklärt seinem Sohn, dass von dort oben die großen Könige der Vergangenheit auf sie herabblicken. Alles geht den Lauf der Dinge und wenn man sich einsam fühlt, können diese Könige einem den Weg zeigen.
Ich denke an die ersten Menschen, die Pioniere, die hochflogen, um erst die Erdatmosphäre zu erkunden und dann schließlich auf dem Mond zu landen. Selbst nach unzähligen Dokus über die erste Mondlandung wirken die Bilder immer noch so unwirklich auf mich. Die Menschheit schickt Sonden in die unbegrenzten Weiten des Weltraums und ergründet die Unendlichkeit. Wie viele Könige sie dabei schon entdeckt hat, weiß ich leider nicht und doch fühle ich mich mit den Entdeckern im Geiste verbunden. In Gedanken schicke ich mich selbst hinaus, um die unendlichen Unergründbarkeiten der Liebe zu erforschen. Der erste Astronaut, der zum Mars fliegen wird, und ich haben schon einen Punkt gemeinsam – unseren Idealismus. Schwierige Unterfangen sollten mich nicht aufhalten können. Das dachte ich jedenfalls, bis ich Lara traf. Anfangs schien unsere gemeinsame Reise super zu laufen. Das sollte nicht so bleiben, es wurde ungemütlich. Ich versuchte, den Kurs beizubehalten, allen Schwierigkeiten zu trotzen, doch mein Raumschiff hatte ernsthaft Schaden genommen. Ich taumelte durch die Unendlichkeit meiner eigenen Gedankenwelt. Jeder Versuch, das Raumschiff wieder auf Kurs zu bekommen, war bisher gescheitert.
„Oida Flo, komm, lass uns mal bissl Spaß haben. Denkst du schon wieder an sie? Lass das endlich mal hinter dir…”
Felix stupst mich leicht auf meine Brust und fängt dann an, meinen Bauch zu kraulen, so als wolle er mich zum Lachen bringen. Ich wehre mich dagegen.
„Sorry, ich muss gerade so oft an sie denken…”
Felix schaut mich nachdenklich an und murmelt:
„Frauen…”
Er macht eine Pause:
„Hör mal, vielleicht war sie wirklich eine besondere Frau für dich, aber ich versteh trotzdem nicht, warum du immer noch so an ihr hängst. Was hat dich so verzaubert?”
Ungefähr ein Jahr vor dieser Party stand ich auf einer Treppe, die mich in ein Flugzeug führte. Die Lichter an den Tragflächen blinkten und große Regentropfen wirbelten umher. Es war eine regnerische, stürmische Herbstnacht angebrochen und ich wollte nur noch weg. Es war eine Flucht – eine Flucht vor meinen Gedanken, eine Flucht vor diesem Schmerz, eine Flucht vor ihr. Der Sommer war endgültig vorbei und mit dem Sommer hatte sich auch Lara verabschiedet. Ich wusste nicht, ob es für immer sein würde, aber es fühlte sich so an und ich wollte es nicht wahrhaben. Es war, als wäre ein Teil von mir am Ende dieses Sommers gestorben. Doch ich war mir wahrlich unsicher, ob mir dieser Teil als König am Sternenhimmel den Weg weisen sollte.
Ich hatte noch eine allerletzte Nachricht für sie in mein Handy getippt, diese aber dann doch nicht abgeschickt. Ich hatte ihr die letzten Wochen einige Texte geschrieben und ich trug jeden einzelnen bei mir. Es waren die letzten Dokumente, die letzten Zeitzeugen von dem, was zwischen uns war. Ich wollte ein Stück von ihr bei mir haben, auch wenn ich wusste, dass es mich noch mehr verletzen könnte. Ich hatte schon ein paar Frauen in meinem Leben kennengelernt, aber dieses Mal war es wirklich etwas ganz Besonderes. Diese Verbundenheit, diese Purheit, diese emotionale Stärke, das war einfach so einzigartig. Es tat weh, der Regen prasselte auf meinen Kopf und mir war nach Weinen zumute.
Durchnässt betrat ich das Flugzeug und grüßte die Stewardess, die mit einem freundlichen Lächeln die Passagiere empfing. Mir sollte kalt sein, doch ich spürte mich nicht. Die Außenwelt fühlte sich dumpf und unwirklich an. Aus Höflichkeit erwiderte ich auch ein kurzes, gezwungenes Lächeln. Es war kein großes Flugzeug, doch ich hoffte, eine Sitzreihe für mich allein zu haben.
Mein Plan war es, in meine Heimat nach Luxemburg zu fliegen. Ich lebte schon seit einigen Jahren in Wien, aber in Krisenzeiten wie diesen half es mir, eine kleine Auszeit zu nehmen. Dann flog ich ganz gerne zu meiner Familie und zu Freunden aus Kindertagen. Umgeben von Tieren und Landluft konnte ich immer noch am besten abschalten. Obwohl in mir ein gewisser Drang nach Abenteuern in der Großstadt schlummerte und ich mich viel mit den großen Lebensfragen beschäftigte, so war ich doch irgendwie der Provinz verschrieben.
Diese Freiheit, etwas Landluft zu schnuppern, nahm ich mir, so oft ich konnte. Ich hatte im Moment keine beruflichen Verpflichtungen und war sehr dankbar, unter diesen Umständen leben zu dürfen. Wie das Schicksal manchmal so unerwartet die beruflichen Lebenswege verändern kann, durfte ich vor zwei Jahren erfahren. An sich versuchte ich schon seit Jahren, mit kleineren Aufträgen als Videoproduzent Fuß zu fassen. Es gelang mir auch so halbwegs, mich mit kleineren Werbeaufträgen über Wasser zu halten, aber es befriedigte mich ganz und gar nicht.
Ich wollte das Leben verfilmen, die Geschichten, die das Leben schrieb. Und so hatte ich begonnen, ein Buch zu schreiben. Der Titel lautete „Notausgang Tinder?!“ und es ging dabei um einen jungen Mann, der auf der Suche nach der Liebe in total absurde Online-Dating-Abenteuer hineinschlitterte. Darin, Kurzgeschichten und Drehbücher für Kurzfilme zu verfassen, hatte ich schon etwas Übung, aber das war mein erster echter Roman. Ich hatte keinen Verlag gefunden, also beschloss ich, ihn einfach selbst zu veröffentlichen. Das Buch schien einigen Leuten zu gefallen. Es traf wohl einen gewissen Zeitnerv und das erfüllte mich mit Stolz.
Eines Tages bekam ich unerwarteterweise eine Anfrage eines Filmproduzenten. Er wollte sich die Rechte am Buch sichern. Dies haute mich erstmal komplett vom Hocker, besonders als ich die Summe erfuhr, die er mir bot. Okay, ausgesorgt hätte ich damit bei weitem nicht, aber die nächsten ein bis zwei Jahre konnte ich beruhigt leben und an neuen Ideen feilen. Zudem war es ein riesiger Schritt in die Filmbranche für mich. Ohne zu überlegen, nahm ich das Angebot an. Die Filmarbeiten dauerten noch an, aber der Film sollte kommenden Sommer in die Kinos kommen. Ich hatte zwar kein Mitspracherecht mehr, weil ich die Filmrechte komplett abgetreten hatte, gleichwohl freute ich mich sehr auf den Film. Doch wie sagte man so schön: Glück im Spiel, Pech in der Liebe. War es das, was mir widerfahren war?
Felix verstand mein Unglück gar nicht, für ihn war die Tatsache, dass ich die Geschichte für einen Kinofilm geschrieben hatte, das absolute Nonplusultra. Die – aus seiner Sicht – etwas „dumm gelaufene” Sache mit Lara sollte ich doch schnell vergessen können. Felix war kein unsensibler Mensch, aber er sah, was Liebesgeschichten anbetraf, das Leben sehr rational. Auf der anderen Seite war er verrückt genug, sein Auto zu verkaufen, nur um einen Kurzfilm drehen zu können. Idealisten tickten wohl auf ganz unterschiedliche Arten und Weisen.
Ich hatte einen Fensterplatz ganz hinten im Flugzeug, presste meine Kopfhörer fest an meine Ohren, hörte Musik und schaute hinaus in die verregnete Nacht. Die vergangenen Monate liefen wie ein Film vor meinem geistigen Auge ab. Dies war mein Versuch, der Realität wenigstens für ein paar Augenblicke entschwinden zu können. Fliegen hatte seit jeher etwas Abschaltendes für mich. Für die kurze Zeit über den Wolken konnte ich die Welt unter mir ausblenden. Ich schwebte in meinem eigenen Kosmos für mich davon und fühlte mich dabei den Sternen nah.
Das Boarding war fast abgeschlossen und ich träumte vor mich hin. Plötzlich spürte ich einen leichten Ruck an meiner Rückenlehne und schaute überrascht nach rechts. Eine ältere Dame mit halblangen weißgrauen Haaren, sehr nett wirkenden, grünen Augen und einem sympathischen Lächeln nahm neben mir Platz.
„Junger Mann, ich habe ja schon so einiges in meinem Leben erleben dürfen und mitgemacht, aber an das Fliegen werde ich mich wohl nie gewöhnen. Besonders der Start und die Landung machen mir jedes Mal ein wenig Angst.”
Ich musste trotz meiner Trauer sogar leicht grinsen und sie zwinkerte mir zu.
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